Der Vorfall von Neulengbach

Vermutlich schon im März 1912 suchte die kaum 14-jährige Tatjana von Mossig Schieles Bekanntschaft. Nachdem sie sich ihm schon zuvor bei der Arbeit im Freien genähert hatte, stand sie eines abends bei Sturm und Regen an Schieles Haustür und bat ihn und Walburga Neuzil unter Tränen, bei ihnen übernachten zu dürfen, da sie sich von ihren Eltern schlecht behandelt fühlte ausgerissen wäre. Schiele und Wally lehnten zunächst ab. Angesichts des stürmischen Wetters und der Versicherung Tatjanas, nur für eine Nacht bleiben zu wollen, um am folgenden Tag zu ihrer Großmutter nach Wien zu fahren, willigte Schiele ein. Das Mädchen verbrachte die Nacht in Wallys Zimmer.
 
 

Am nächsten Morgen fuhren die drei nach Wien-Westbahnhof, wo sich Schiele von Wally und Tatjana trennte, um den Abend und die Nacht auf einer Soiree eines Gönners, des Industriellen Carl Reininghaus zu verbringen. Wally sollte Tatjana zu ihrer Großmutter begleiten. Als Schiele am folgenden Tag Wally zum vereinbarten Zeitpunkt am Westbahnhof traf, sah er zu seiner Verwunderung auch Tatjana dort stehen. Diese hätte sich doch nicht zu ihrer Großmutter gewagt, weshalb sie zusammen mit Wally in einem Hotel übernachtet hatte.
 
Zu dritt reisten sie zurück nach Neulengbach, wo Tatjana es bewerkstelligte, eine weitere Nacht im Haus Schieles übernachten zu können. Schiele hatte Wally zuvor aufgetragen, das Mädchen sodann z u ihren Eltern zurückzuführen. Ritter Theobald von Mossig, k.k. Linienschiffsleutnant und em. Marineattaché, kam dem zuvor, indem er am nächsten Morgen aufgrund entsprechender Hinweise bei Schiele auftauchte und verlangte, dieser möge ihm seine Tochter ausfolgen. Falls Schiele dem nicht nachkommen würde, würde er wegen Verführung einer Minderjährigen mit den Gerichten in Konflikt kommen – eine Anzeige wäre bereits erstattet.
 
Als Von Mossig und seineTochter sein Haus verlassen hatten, dachte Schiele zunächst, dass die Sache damit aus der Welt sei und die Anzeige zurückgezogen würde.
 
Tatjanas Vater hatte zunächst lediglich eine Vermisstenanzeige erstattet. Deren Gegenstand jedoch betraf Fakten, die zumindest den Verdacht des Verbrechens der Entführung (§96 StG) begründen konnten. Dabei handelte es sich um kein Privatanklagedelikt, ein Delikt also, das nur auf Verlangen des Verletzten oder eines anderen Beteiligten zu verfolgen war, sondern um ein von Amts wegen zu verfolgendes Offizialdelikt. Die Behörden waren somit gesetzlich verpflichtet, allein aufgrund der Kenntnis von diesen Tatsachen – selbst gegen den Willen des Vaters oder der Tochter – die Sache weiter zu verfolgen und Ermittlungen anzustellen.
 
Nicht zuletzt wegen der in Neulengbach kursierenden Gerüchte, wonach Schiele Kinder als Modelle verwendete, in seiner Wohnung Bilder von nackten Mädchen zu sehen waren und der für die Behörden keinesfalls so klaren Umstände, unter denen sich Schiele, Wally  und das Mädchen Tatjana in Wien aufgehalten hatten, begann die Gendarmerie auch in Richtung eines Sexualdeliktes zu ermitteln, nämlich wegen des Verdachtes des Verbrechens der Schändung (§128 StG).
 
 Im Zuge dessen wurde Tatjana auf ihre geschlechtliche Unberührtheit ärztlich untersucht und bei Schiele eine Hausdurchsuchung vorgenommen, bei der 125 Zeichnungen konfisziert wurden. Darunter befand sich das „Farbblatt, darstellend ein ganz junges, nur am Oberkörper bekleidetes Mädchen“, welches im Schlafzimmer des Künstlers an der Wand hing. Schiele hatte nie geleugnet, seinen Kindermodellen und deren Freunden die Möglichkeit geboten zu haben, alle Räume frei zu besichtigen. Der Verdacht einer Sittlichkeitsübertretung nach §516 StG kam hinzu. Die Staatsanwaltschaft St.Pölten erhielt die Ermittlungsergebnisse zu Beginn des Monats April 1912 und beantragte sogleich die Einleitung gerichtlicher Voruntersuchungen wegen der Verbrechen nach den §§96, 128 und der Übertretung nach §516 StG sowie die Verhängung einer Untersuchungshaft wegen Verabredungsgefahr- die Behörde befürchtete, dass Schiele Tatjana von Mossig beeinflussen könnte.